Sprachvoll Gott - Vorschlag an Sprachwissenschaftler, auf das Studium der Religionen Einfluss zu nehmen

Wenn man unter Studium ein geistiges Eindringen in die Materie zum Zweck des Erkenntnisgewinns über den Gegenstand versteht, ist die bestehende Theologie kein Fach, in dem ein Studium möglich wäre. Das Theologiestudium heute ist im Normalfall die Verteidigung einer fixen Idee. In einem Zeitalter, in dem allen Überzeugungen die Zeugen ausgehen, diese fixe Idee zu retten, ist die Aufgabe der Theologie. Der jeweils Überzeugte ist aber am Ende angelangt und deshalb als Forscher nicht denkbar.

Die Theologie ist, wie die Religion selbst, auch Gegenstand der Forschung, normalerweise der Geschichtsforschung von der Archäologie bis zu den Gesellschaftswissenschaften. Unter den letzteren die Sprachwissenschaft könnte sich mit der Frage beschäftigen, wie Götter in unser Denken kommen. Enger gefasst, gibt es in der Struktur indoeuropäischer Sprachen - und damit auch in der Struktur des Denkens in diesen Sprachen - etwas, das die Denkfiguren des Gottes begünstigt?

Die Könige unserer Sprache, im Deutschen sogar durch Großschreibung herausgehoben, sind die Nomen oder Substantive. In ihnen wird fixiert und vollendet, wird das, was einmal Bewegung und Möglichkeit war, zum festen Ort der Überzeugung. Wann und wie entstanden Substantive? Sie kommen aus dem Handeln. Das Handeln bewegt, die abgeschlossene Handlung wird zum Schrein - und gewinnt, indem sie nominalisiert wird, den Status einer Person, einer Persönlichkeit, eines Gottes. Ein Mensch stirbt. Ein Mensch "geht tot". Ein Mensch ist tot. Er hat gelebt. Am Ende des Lebens steht der Tod. Vier gewöhnliche Aussagesätze und ein Satz, der die Mystik hervorbringt. In dem Moment, in dem ich "das Leben" und "der Tod" sage, gewinnen diese Begriffe eine Persönlichkeit; sie werden zunächst menschenähnlich und lassen sich dann göttlich-mystisch überhöhen. Ich will nicht hierin die Ursache der Religion sehen. Ich will nicht die in der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit auftretenden verschiedenen Gründe für die Entstehung von Religion verneinen. Aber die Sprache (und damit das Denkvermögen) ist selbst Teil der gesellschaftlichen Entwicklung. Und vielleicht gibt es neben dem, was wir an Ursachen der Religion bisher herausgefunden zu haben meinen, noch näher und tiefer Liegendes. Vielleicht ist Sprache, die sich aufs Ganze gesehen gleichzeitig mit Religion entwickelt hat, infiziert mit der Religion. Vielleicht können wir aufklärend die Religion nicht überwinden, weil wir sie der Sprache nicht austreiben können.

Ein Bild aus den Naturwissenschaften: Zellen, Moleküle, physikalische Grundbestandteile haben Rezeptoren, Valenzen, "offene Stellen", an denen etwas anlegen kann. Sind die Substantive unserer Sprache als offene Stellen angelegt, an denen die Götter anlegen können? Ist auch das Abstraktionsvermögen eine Falle für die Götter? Der Baum als Abstraktion von konkreten Bäumen, als Sammelbegriff: ein Wort, das grammatisch-semantisch genauso benutzt wird, als wäre ein konkreter Baum gemeint. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, den abstrakten Baum wie ein konkretes Ding zu sehen, das aber nicht so banal wie der konkrete Baum sein kann, und deshalb überhöht wird. Der "Baum an sich", eine Sprachfigur, wird Denkfigur aus der Not der Sprache heraus, die es nicht besser sagen kann. Wenn’s ganz schief geht, steht am Ende die Deutsche Eiche.

Diese flüchtigen Überlegungen gelten höchstens für Sprachen, die so etwas wie Substantive aufweisen. Wie ist es im Chinesischen zum Beispiel? Hat es etwas mit ihrer Sprache zu tun, dass es dort weniger Glauben und mehr Götter gibt? Man muss vorsichtig bei der Übersetzung sein; wir kommen ohne Substantive nicht aus, die Sprache, aus der wir übersetzen, aber möglicherweise. Und möglicherweise merken wir es nicht, weil wir nicht anders sprechen können, als wir es tun. (November 2011, korrigiert Dezember 2013)