Übergehört
Zum Beispiel NDR II, der Sender, der seit längerer Zeit NDR Info heißt: spielt in abendlichen Sendungen, nun ja, Jazz; nennt diese Sendungen "Play Jazz!". Das Ausrufezeichen ist Teil des Namens (und nicht zu überhören). Warum wir Hörer aufgerufen werden, Jazz zu spielen, wo es doch der Rundfunk für uns tut, ist eine offene Frage. Wer will, kann sich auf der NDR-Internetseite ausführlich darüber informieren, was diese Sendung will. Was sie nicht will ist, Jazz zu spielen. Stattdessen will sie "dicht dran [sein] am Jazzgeschehen", "genau so bunt [sein] wie der Jazz", Trends nachspüren, und uns wissen lassen lassen, welche Platte Herbie Hancock auf eine einsame Insel mitnähme. Und natürlich ist es nicht bloß eine Sendung, sondern ein Magazin - durchaus folgerichtig, denn Magazine beinhalten in der Regel jede Menge Krempel. Ich war nicht immer zufrieden mit einem Michael Naura (insbesondere, wenn er Ornette Coleman beschimpft hat), aber heute wäre ich glücklich über eine Wiederauferstehung solcher Typen im Rundfunk. Stattdessen erfahren wir heute eine aufgeblasene Wichtigkeit (dies Wort muss einfach etwas mit dem Wicht zu tun haben) durch unangemessene Überhöhung von Dingen, die außerhalb der Musik, aber in Zusammenhang mit den Musikern stehen. Klatschhähne und -hühner, sozusagen. - Man muss sich nicht nehmen, weder ernst noch wichtig; man muss seinen Gegenstand ernst nehmen. Das allerdings ist zugegebenermaßen schwierig: wie kann man eine Musik ernst nehmen, die weitestgehend von einer Marketingabteilung diktiert wird, einer Marketingabteilung, die die meisten Künstler bereits im Kopf haben? Wie man früher von Gebrauchsgrafikern sprach, sollte man im Jazz heute von Gebrauchsmusikern sprechen, mit wenigen, sehr wenigen Ausnahmen. Konsequentes ästhetisches Denken gibt es unter den heute berühmten Jazzmusikern kaum noch. Die Neuen kommen nicht mehr hoch - sie werden nicht gespielt. Ästhetischer Mut ist so ungefähr das Letzte, was man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk finden wird. Sogenannte Moderatoren lesen in ihren Sendungen die Waschzettel der Tonträgerfirma auszugsweise ab. Den ehemaligen Musikredakteuren Michael Naura und Werner Burkhardt mit ihrem aufklärerischen Duktus wäre es unmöglich gewesen, das zu tun, was ihre Nachfolger heute im Radio machen: ein Verkaufsgespräch zu führen. Vieles von dem, was unabhängige Radiostationen wie fsk leisten, gehörte in ein öffentlich-rechtliches Programm.
Oder NDR III (der Sender, der nun natürlich NDR Kultur heißt, weil die Verantwortlichen weder den Unterschied noch den Zusammenhang der Begriffe Kunst und Kultur verstanden haben - oder nicht mehr verstehen wollen, weil sowieso alles egal ist): all die anbiedernden Moderatoren-Stimmen schütten einem eine Floskelsuppe ein, in der sich Partikel seriöser Kunstkritik verlieren. Etwas, das die Moderatoren, da sie ja nicht mehr "nur" Ansager sind, selbst fabrizieren müssen, offensichtlich ohne Leidenschaft für die Musik und oft genug in oberflächlicher Kenntnis der Musikgeschichte. Fad und mehlschleimig. Die dicht ins Mikrofon hauchende Stimme, die keine richtigen S-Laute mehr zustande bringt, ist Ausdruck des Sex-sells-Dogmas; die scheinbare Intimität - ein so offfensichtlicher Betrug wie jede "Sorge" einer Firma um ihre Kunden - zerstört jedes Mal auf abgeschmackteste Weise die Distanz, die durch die Kunst der vorgeführten Werke entstanden war; eine Distanz übrigens, die eine wirkliche Intimität des Hörers mit dem Werk erst ermöglicht. So ein Programm zu hören bedeutet, in ein ständiges Wechselbad aus Liebe und käuflicher Liebe zu geraten. Romantisch wie ein Essen mit Kerzen und hinterher musst du das beschissene Wachs überall abkratzen. Hallo, wir haben elektrisches Licht inzwischen! Aufklärung statt Einlullung war mal ein angesagtes Ding! Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk produziert nicht per se Ware, die zur Unkenntlichkeit verpackt (und oft genug zerstückelt) werden muss! Ihr seid keine Firma! Ihr seid eine Agentur dieses Staatswesens, die einen Auftrag hat! Wenn ihr glaubt, diesen Auftrag erfüllt zu haben, dann löst euch gefälligst auf! Werdet arbeitslos, oder jobbt für das halbe Gehalt bei Medienfirmen, die auf euer Gesülze angewiesen sind!
Oder Deutschlandfunk: lange her, aber unvergessen und symptomatisch: Ostermontag 2008, morgens, Interview mit Angelika Schrobsdorf. Diese spricht gestochen klar, in dem Wort "liebte" hört man das "b", dann das "t", dann das "e", ohne dass der Gesamteindruck theatralisch überkandidelt gewesen wäre. Wunderbar. Sie sprach über den Matsch, der heute als gesprochene deutsche Sprache durchgeht. Die Interviewerin: ein Wattebäuschchen, das nicht einmal ein stimmhaftes "s" aussprechen kann, oder nicht wagt, es auszusprechen. Zum klaren, eindeutigen, dazu die Vieldeutigkeit der Sprache ausnutzenden Sprechen der Schrobsdorf fällt der Interviewerin nur ein: "Preussen". Selbstverständlich nicht komplett, sondern, Sie erraten es: "ein bisschen".
Anscheinend üben die öffentlich-rechtlichen Anstalten nur noch ihrer Insassen wegen ihren Betrieb aus. Ich hab’s mir übergehört. Dazu passt, dass die Rundfunkgebühren nun in eine Steuer umgewandelt worden sind. Fast glaube ich, die herrschende Klasse kann den Witz gar nicht mehr goutieren, der darin besteht, dass die Geprügelten auch noch für den Knüppel aufkommen müssen. (Juni 2015)