Meinungsneigung

Eine Meinung steht nicht zur Diskussion. Sie wird als legitimes Eigentum angesehen, als etwas, auf das ein Besitzer ein Recht hat. So wird sie eingereiht in die Begriffe Frau, Mann, Kind, Haus, Auto, Yacht; alles, was eigentümlicherweise als Besitz durchgeht. Was soll ich einem sagen, der mir seine Meinung sagt? Danke? Habe ich neulich schon gehört? Oh, wie exotisch? Ich habe die gleiche? Da könnte ich auch mit einem Schaufenster reden.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Bildzeitung, dieses Dressurorgan der Masse, werbend spricht: Bild dir deine Meinung. An einer Meinung hält man fest, wie an jedem Eigentum. Und Eigentum, nicht etwa Eigentümlichkeit (zwei Verwandte, die einander nicht ausstehen können), ist der absolute letztendliche Gradmesser gesellschaftlicher Stellung.

Dem größten Rüpel oder Dummkopf wird dies nachgesehen, wenn und weil er Eigentümer großen Stils ist. Der Eigentümer kleinen Stils will wenigstens eine Meinung sein eigen nennen, sei sie noch so abstrus. Wenn einem auf die Schnelle keine Meinung einfällt, die man zur eigenen machen könnte, bedient man sich in der Zeitung, beim Rundfunk, beim Fernsehen oder bei noch obskureren Quellen. Dann kann man zu Franz-Josef Wagner sagen "Genau meine Meinung" und erklimmt neue Höhen, weil ein großer Denker - denn was könnten Zeitungsschreiber anderes sein - die gleiche Meinung hat wie man selbst nach Lektüre.

Die größte, nämlich am weitesten verbreitete Freiheit ist die Meinungsfreiheit; sie führt zu nichts. Die kleinste Freiheit ist die Handlungsfreiheit; sie könnte zu etwas führen. Da sei das Kapitalverhältnis vor! (Und nicht etwa böse Menschen). Wenn man miteinander reden möchte, sollte man einander besser Erkenntnisse vortragen. Auf Erkenntnissen kann man nicht beharren, sie können sich als falsch heraustellen. Auf einer Meinung muss man beharren, denn sie ist ein Besitz, den es zu verteidigen gilt. Das Fazit jeder fruchtlosen Meinungsdiskussion ist "Ist eben meine Meinung, du musst sie ja nicht teilen". Deshalb gehören Meinungen aufs T-Shirt: man nimmt sie zur Kenntnis und spricht nicht drüber. (2019)